Das ist wohl DIE Durchhalteparole für Eltern. Das Baby quengelt, ohne einen auf den ersten Blick ersichtlichen Grund? Das Kind schläft schlecht, will nie alleine sein, will alles haben und gleichzeitig ist ihm nichts recht? Es klebt Tag und Nacht förmlich an den Eltern und kann sich keine Minute beschäftigen? Ja, dann ist es wohl mitten in einem Schub.
Entwicklungsschübe bedeuten Veränderung
Diese Schübe können uns das Leben schwermachen und trotzdem wissen wir: Ohne geht es auch nicht! Wir wollen schließlich vorankommen, wir wissen, dass unsere Kinder ständig etwas Neues lernen, das neue Synapsen sich verknüpfen, neue Fertigkeiten erprobt werden müssen und unser Kind am Ende (gefühlt) 10 cm größer und um einiges selbständiger aus diesem „Schub“ wieder rauskommt. Wenn es doch bloß so einfach wäre…
Ein Fahrplan fürs erste Jahr?
Je größer der Leidensdruck – desto größer auch die Auswahl an Ratgeberliteratur, die den verzweifelten Eltern angeboten wird. Hier finden wir alles über die genaue Abfolge der zu erwartenden Entwicklungsschritte, exakte Zeitpläne, die das erste Lebensjahr unseres Kindes strukturieren und individuelle Förderempfehlungen. Die termingerecht angekündigten Entwicklungsschritte werden detailliert beschrieben, wir erfahren, was unser Kind in dieser Phase unbedingt braucht und was es danach alles Neues kann. Wer sich dabei nicht nur auf ein staubiges Buch verlassen will, der kann sich gleich die passende App runterladen, die mittels einer Pop-up-Benachrichtigung und einer kleinen Gewitterwolke direkt meldet, dass der nächste Schub im Anflug ist. Wer würde schließlich verpassen wollen, wenn das eigene Kind ein Upgrade erhalten hat? Das Kind braucht einen Namen – und alle Eltern kennen ihn: der Schub.
Mein Kind - Dein Kind
Die Frage ist nur: Kennen die Macher von dieser App (oder die Autoren dieser Ratgeber) denn eigentlich MEIN Kind? Woher wissen die denn, dass mein Kind diesem Lehrplan der Entwicklungsschritte genau folgt? Woher weiß mein Kind, das es diesem folgen soll? Was ist, wenn mein Kind ganz andere Vorlieben/Interessen oder Bedürfnisse hat, die dazu führen, dass die Entwicklungssprünge in einer anderen Reihenfolge erfolgen oder mit einem anderen Fokus? Klar unterliegt die motorische und kognitive Entwicklung eines Kindes in Westeuropa gewissen Rahmenbedingungen und auf einander aufbauenden Abläufen, sodass ein Entwicklungsschritt nie komplett ausgelassen werden kann. Aber wir können doch durchaus davon ausgehen, dass Kinder sich individuell entwickeln und dass auch schon Babys unterschiedliche Stärken, Charakterzüge und Talente entwickeln. Kein Kind wächst auf wie ein anderes, selbst Geschwisterkinder leben in unterschiedlichen Familienkonstellationen und Rollenverhältnissen, Familie und Familienleben unterliegen einem ständigen Wandel (von anderen äußeren Einflüssen, wie sozialer Status, Wohnraum, Erziehungsstil oder Gesundheit gar nicht erst zu sprechen) und können nie exakt mit einer anderen verglichen werden.
Gewitterwolken als drohende Krise
Wie kann also eine solche Theorie der exakt festgelegten Entwicklungssprünge (auch wenn hier statistische Mittelwerte die Grundlage bilden) den Anspruch haben, Kinder miteinander vergleichen zu können und Eltern dadurch auch noch eine Unterstützung zu bieten? In meinen Augen ist das nicht mehr und nicht weniger als eine sich-selbst-erfüllende Prophezeiung die höchstens dazu führt, dass wir den individuellen Blick für unser Kind Stück für Stück verlieren. Die App meldet, dass das Kind ab morgen, für genau 72 Stunden, einen Schub durchleben wird und deshalb besonders viel jammern, schlecht essen, schlecht schlafen und zu allem Übel auch noch fremdeln könnte? Vorsorglich sagen wir alle Verabredungen ab und verbringen diese drei Tage mit einem jammernden Kind zu Hause. Sicher ist sicher – da müssen wir durch. Jedes weinen, jedes Auf-den-Arm-wollen wird dann allerdings aus Elternperspektive viel schlimmer und anstrengender wahrgenommen, als es vielleicht tatsächlich ist. Man ist ja schließlich in einem Schub und der ist ja bekanntlich ganz furchtbar.
Zurück zu dir - Zurück zu mir
Was aber wäre, wenn wir die Sache umdrehen und selber in die Hand nehmen? Was wäre, wenn Eltern sich einfach von ihren Kindern überraschen lassen würden? Warum sollte man diese zu erwartenden Entwicklungssprünge freiwillig in all ihrer Negativität auskosten? Sicherlich können wir unseren Kindern zugestehen, dass sie auch mal schlechte Laune haben, oder sogar einen schlechten Tag. Vielleicht auch mehrere schlechte Tage. Vielleicht werden es aber auch richtig gute Tage, in denen unser Kind Entwicklungsschritte macht von denen wir gar nichts wussten und mit denen wir nicht gerechnet haben? Dann können wir alle Apps und Ratgeber die uns im Weg liegen zur Seite schieben und uns einfach mit unserem Kind zusammen über die gewonnenen Entwicklungsschritte freuen. Schließlich ist ja alles nur eine Phase – Hase.